Donnerstag, 25. Januar 2024, 19:33 Uhr
von Bernd

Warum wir mit großer Wahrscheinlichkeit wieder faschistisch werden

Seit Jahren reden die demokratischen Parteien davon, dass sie die Faschisten (meist AfD genannt) "inhaltlich stellen" müssen oder wollen. Warum das nicht gelingen wird.
Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-H12937,_M%C3%BCnchener_Abkommen,_Ankunft_von_Mussolini.jpg

[Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien zuerst als LinkedIn Beitrag.]

Seit Jahren reden die demokratischen Parteien davon, dass sie die Faschisten (meist AfD genannt) "inhaltlich stellen" müssen oder wollen. Warum ich glaube, dass dies (weiterhin) nicht gelingen wird und wir, im Gegenteil, wieder im Faschismus landen werden, möchte ich hier erklären.

Im ersten Teil schreibe ich die aktuelle Entwicklung fort unter der Annahme der bisherigen Rahmenbedingungen. Im zweiten Teil zeige ich auf, welche geänderten Rahmenbedingungen jetzt erst noch wirksam werden, die den Faschisten noch viel besser zur Macht verhelfen und warum die demokratischen Parteien dies kaum aufhalten werden. Leider.

Teil 1: Absehbare Entwicklung bei einfacher Fortschreibung der Vergangenheit

Zur Einstimmung vergegenwärtigen wir uns zunächst einen aktuellen Wahltrend (13.1.2024):

Insgesamt gibt es 630 Sitze, die Mehrheit beginnt also bei 315. Die aktuellen Regierungsparteien der Ampel hielten demnach nur noch 235 Sitze und wären in der Minderheit.

Meine Annahme zur kurzfristigen Entwicklung ist, dass die aktuellen Regierungsparteien bis zur nächsten Bundestagswahl noch etwas mehr Stimmen verlieren werden. Diese Annahme stütze ich auf die Beobachtung, dass die Parteien weiterhin nicht kooperativ im Gemeinwohlinteresse, sondern im egoistischen Wettbewerb zu einander agieren. Sie kämpfen darum, wessen Projekte zu Lasten der anderen Parteien durchgesetzt werden. Je nach politischer Einstellung werden aktuell vor allem die Grünen und die FDP dafür verantwortlich gemacht. Und Olaf Scholz wird von vielen als einer der schwächsten deutschen Kanzler ever wahrgenommen (bspw. ZEIT vom 7.12.23).

Solange sich das nicht ändert, wird die Unzufriedenheit der Menschen weiter sinken, auch bei den Anhängern der beteiligten Parteien. Ein mögliches Ergebnis im Herbst 2025 sähe dann vielleicht so aus:

Die Ampelparteien verlieren etwas. Aber auch der CDU habe ich einen kleinen Abschlag zugeschrieben, weil ihr Drift nach Rechtsaußen die Unterschiede zur AfD verkleinert, womit sie ihr Profil schwächt.

Hier ergäben sich folgende Mehrheitsoptionen:

  • AfD+CDU: 542 Sitze
  • CDU+Grüne+SPD: 398 Sitze

Die demokratischen Parteien werden dann jammern. Weil die CDU zwar ihre Berührungsängste der AfD gegenüber längst verloren hat, aber noch zu stolz ist, auf Bundesebene Juniorpartner zu sein, wird es wohl auf eine alldemokratische Koalition unter CDU-Führung hinauslaufen.

Zwischen CDU, Grüne und SPD existieren ausreichend viele Differenzen und Spannungen und das zu erwartende politische Personal wird auch eher taktisch operieren, so dass sie das desaströse Verhaltensmuster der aktuellen Ampelregierung sehr wahrscheinlich fortführen werden. Profitieren würde die faschistische Opposition. Mit realistischen Chancen, dann 2029 stärkste Partei zu werden.

Es gibt also eine ernstzunehmende Wahrscheinlichkeit, dass die Faschisten 2029 demokratisch legitimiert den Regierungsanspruch erheben werden.

Vielleicht auch erst weitere vier Jahre später, 2033, also genau 100 Jahre nach letzten faschistischen Machtergreifung und heil Hitler. Zum Vergleich: Bei der Reichstagswahl im November 1932 benötigte die NSDAP auch nur 33,1 % der Stimmen.

Bis hierher habe ich diese These einer absehbaren faschistischen Regierung nur auf die Fortschreibung der bekannten Verhaltensmuster der Parteien gestützt und vielleicht bleiben die nicht-faschistischen Parteien ja standhaft genug. Die Lage ist aber viel desaströser, wenn man die These einbezieht, dass sich der Kontext und allgemeine Rahmenbedingungen grundlegend geändert haben. Paradigmenwechsel ist ein großes Wort, aber so nennt man den Wandel grundlegender Rahmenbedingungen.

Teil 2: Mögliche Entwicklung unter Einbeziehung veränderter Rahmenbedingungen

Als sich Politik noch handlungsfähig zeigte

In den letzten 20 Jahren traten immer wieder schwerwiegende Krisen auf: Weltfinanzkrise 2008, Griechische Staatsschuldenkrise 2010, Coronakrise 2020, Gasversorgungskrise 2022, verschiedene wirtschaftliche und militärische Kriege. Bei der Klimakatastrophe lässt sich das Jahr kaum benennen, irgendetwas zwischen 1972 (Club of Rome-Bericht) und heute - was auch die tiefgreifendere Qualität der "Klimakrise" zeigt.

Die Politik hat hier oft fragwürdige Entscheidungen getroffen, aber sie konnte sich immer noch handlungsfähig zeigen:

  • Um einen beginnenden Bank Run zu stoppen sagten Angela Merkel und Peer Steinbrück am 5. Oktober 2008: „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein.“
  • Am 26. Juli 2012 sagte Mario "whatever it takes" Draghi: "Die EZB ist bereit, alles Notwendige zu tun, um den Euro zu retten. Und glauben Sie mir, es wird reichen."

Auch bei den nachfolgenden Krisen wurde dies mit "Bazooka" oder "Doppel-Wumms" versucht: Wir werfen das Problem mit Geld zu, Gesellschaft und Ökonomie werden es dann ertragen und bewältigen.

Paradigmenwechsel und Überforderung der Politik

Mittlerweile treten keine gelegentlichen Krisen mehr auf, sondern eine Vielzahl paralleler Krisen ist das neue Normal. Wir sind übergetreten in eine Phase, in der die eine Krise noch gar nicht bewältigt ist und schon die nächsten losgehen. Die Krisen überlagern sich immer mehr. Die Krisen werden auch immer komplexer, treten in Wechselwirkungen, Geldgeschenke erzeugen kaum noch Aufschub, sondern werden selbst zum weiteren Problem.

Menschen nehmen schleichende Prozesse wie die Klimakatastrophe kaum wahr, zumindest nicht unmittelbar sinnlich. Exponentielle Entwicklungen und komplexe Wechselwirkungen machen uns auch Mühe. Wir sind evolutionär schlecht darauf vorbereitet.

Einige Probleme ließen sich vermutlich lösen, wenn die Politik dem Rat der eigenen Fachleute beherzt folgen würde. Immer öfter gibt es jedoch keine sicheren Lösungswege mehr. Das ist eine Eigenschaft von Komplexität, ich hatte dies in einem anderen Beitrag bereits ausgeführt. Dann hilft nur noch ein empirisch rückgekoppeltes Vorgehen, also ein schrittweises erprobendes Herantasten und Herausfinden, womit tatsächlich Verbesserungen erzielt werden können.

Wir Menschen müssen dann viel Unsicherheit aushalten. Während die Fachleute die Komplexität in ihrem jeweiligen Fachgebiet noch fassen können, sind alle anderen damit zumeist weitgehend überfordert. Auch die Politik, die Entscheidungen trifft und deren Entscheidungsqualität dadurch sinkt. Noch viel mehr, je öfter zunächst klare Handlungsstrategien durch politische Kompromisse bis zur Unwirksamkeit verbogen werden.

Die Politik wird dann nicht mehr als handlungsfähig wahrgenommen.
[Aktuelle Anmerkung vom 26.09.2024: die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtags zeigt ein Beispiel der öffentlich zu besichtigenden Handlungsunfähigkeit durch das Verhalten der beteiligten Parteien. Hier kann man einen bezugnehmenden LinkedIn Beitrag lesen]

Die zunehmende Komplexität und Dynamik der Probleme und Krisen führt zu einer Zunahme der Überforderung. Die Regierenden werden mit großer Wahrscheinlichkeit in den kommenden Jahren noch viel weniger handlungsfähig wahrgenommen. Es gibt dann noch weniger Grund, sie zu wählen. Wen dann? Genau:

Populismus gewinnt

Dass die magisch-einfachen Lösungsversprechen der Populisten die Probleme auch nicht lösen, fühlen oder glauben selbst viele ihrer Anhänger und der verzweifelte Verweis darauf wird den Wahltrend nicht umkehren. Wenn schon keine Lösung in Sicht ist, dann doch lieber den bequemeren Weg. Menschen versuchen unangenehme Gefühle zu vermeiden. Die Inhalte werden nachrangig sein.

Der Paradigmenwechsel bedeutet: Die wachsende Problemkomplexität nimmt den Regierenden die Möglichkeit, sich handlungsfähig zu zeigen.

Umso mehr, je mehr Kompromisse gemacht werden müssen, d.h. umso mehr, je mehr Parteien an der Regierung beteiligt sind. Jeder weitere Sitz für Faschisten und Populisten vergrößert den Kompromissbedarf einer aus demokratischen Parteien gebildeten Regierung. Es entstehen sich selbst verstärkende negative Wechselwirkungen.

Statt das Richtige zu tun (oder zumindest das von den eigenen Expertenräten Vorgeschlagene), konzentriert sich das politische Handeln nur noch auf das weniger Unpopuläre, womit aktuelle Krisen verschärft und neue geschaffen werden.

"Es kann nicht die Aufgabe eines Politiker sein, die öffentliche Meinung abzuklopfen und dann das Populäre zu tun. Aufgabe des Politikers ist es, das Richtige zu tun und es populär zu machen." sagte Walter Scheel am 22.10.1969 bei seiner Ernennung zum Vizekanzler. Was damals schon eine ambitionierte Vision war, klingt heute wie Planet B.

Überforderung der Institutionen

Leider ist das nicht alles. Denn auch die staatlichen Institutionen, die Behörden, die Verwaltung, die Gerichte etc. geraten immer mehr in die Überforderung. Das Gesundheitswesen arbeitet am Limit, die öffentliche Infrastruktur verrottet, die Bahn wurde kaputtgespart, die förderalistisch-kompromittierte Bildungspolitik senkte die Widerstandskraft gegen Populismus. Anträge werden nicht bearbeitet, Genehmigungen verzögert, Arzttermine kommen zu spät usw.

Das bremst gemeinwohlorientierte und integere Personen, während die Egoisten, Lobbyisten und Trickser ihre Wege im Chaos finden. So wie in den letzten 20 Jahren das Vertrauen vieler Menschen in die Politik zerstört wurde, so schwindet nun das Restvertrauen in die staatlichen Institutionen.

Überforderung der Gesellschaft

Die Überforderung der Institutionen ist dennoch nichts gegenüber der Zerstörung der Gesellschaft selbst. Die Mehrheit der Menschen beziehen ihre Informationen mittlerweile aus sozialen Netzwerken, digitalen Medien oder rein populistischen Medien. Je nach Alter aus TikTok, LinkedIn, X, Telegram-Kanälen, Whatsapp-Gruppen usw. Diese prägen die Wirklichkeitskonstruktion. Schon Luhmann wusste: Unsere Gesellschaft besteht eigentlich aus Kommunikationen.

Die Macht dieser Medien konnten viele während der Coronakrise erleben, als nicht wenige Menschen sich absurdeste Realitäten konstruierten. Generative KI wirkt hier jetzt als verheerender Booster. Die strukturbedingte Desinformation hat unsere Gesellschaft schon heute durchfressen, wir stecken mittendrin im Verfall. Selbst wenn also Politik das Richtige tun sollte, wird es nicht "realisiert", nicht Teil der gesellschaftlichen Realität.

Die Kombination aus wirklich existenziellen Bedrohungen, evolutionär darauf unvorbereitete Gehirne, internetbasierten gehirnfreundlichen faschistischen Erzählungen und Desinformationen geben unser Gesellschaft gerade den Rest. Goebbels bekäme Lachmuskelkater.

Kurz: Die demokratischen Parteien und verbleibende demokratische Gesellschaft haben kaum eine Chance.

Letzte Chance: Transformation

Wenn wir noch etwas zum Positiven wenden möchten, dann geht es nicht mehr um Inhalte, sondern um die Veränderung der Rahmenbedingungen selbst. Wir brauchen eine radikale Transformation des politischen und demokratischen Systems (natürlich auch der Gesellschaft, Wirtschaft etc., aber rahmengebend ist das politisch-demokratische System). Komplexe Probleme sind auf einer anderen Ebene zu lösen, als sie entstanden sind.

Die einzige transformative Partei ist aktuell die AfD, sie will das System als solches verändern - alle anderen arbeiten sich im System kaputt. Solange es keine transformative Alternative gibt, kommen wir aus dem Dilemma nicht raus. Wir müssen jetzt am System arbeiten, nicht mehr nur im System.

Also liebe SPD, CDU und Grüne: Der Streit um Inhalte (Klimageld, Subventionsabbau, Einwanderung etc.) ist vielleicht notwendig - er wird nutzlos bleiben, wenn ihr nicht beginnt, gemeinsam unseren Staat, unsere demokratischen Prinzipien, unsere Verfassung und eure Arbeitsweise ganz grundlegend zu erneuern.

Der erste Schritt, damit wir als Menschen wieder Vertrauen in euch gewinnen, besteht darin, dass ihr zugebt, überfordert zu sein, dass ihr keine Chance mehr habt, als handlungsfähig erlebt zu werden, und dass auch euch das vorhandene System deformiert und dysfunktional gemacht hat. Was hattet ihr für Ideale und was bleibt euch jetzt? Wenn euch die oben zitierte Vision von Walter Scheel schon auf der inhaltlichen Ebene nicht gelingt, vielleicht kommt ihr auf der Metaebene zusammen: Wie wollt ihr eigentlich regieren?

Und liebe demokratische Parteimitglieder: sucht und wählt eure Führungskräfte nicht nach den Inhalten, sondern nach ihrer transformativen Vision für den großen Rahmen. Sonst lautet die Alternative faschistisches Deutschland (AfD) 2029 und Klimatod 2050.

Als Kommentar liefere ich später noch ein paar weiterführende Informationen.
[Anmerkung der Redaktion: weiterführende Information werden sich unter dem Originalbeitrag finden.]